Im Rahmen eines Organisationsentwicklungsprozesses ist nicht selten zu beobachten, dass aufgrund fehlenden Einbezugs von Mitarbeitenden oder auch aufgrund der Wahrnehmung, dass der „Erfolg“ einer Maßnahme ausbleibt, unterschiedliche Formen der Nicht-Identifikation von Mitarbeitenden entstehen. Nicht-Identifikation kann beispielweise so aussehen, dass eine Mitarbeiterin, die mit ihrem Team durch einen Veränderungsprozess hindurchgegangen ist, in dem die Teamstruktur verändert wurde, in der neuen Struktur nur noch „Dienst nach Vorschrift“ macht und mit geringerer Arbeitsleitung oder -intensität ihre Arbeitszeit „absitzt“. Nicht-Identifikation bedeutet aber auch, dass sich Mitarbeitende deutlich weniger mit dem Unternehmen verbunden fühlen und das Risiko, Mitarbeitende zu verlieren, steigt. Je höher die Nicht-Identifikation, desto geringer die Mitarbeiterbindung und desto wahrscheinlicher eine hohe Fluktuationsrate. Anders gesagt: Ein Ansatz, Mitarbeitende zu binden und zu halten, ist es, dafür zu sorgen, ihnen Gründe und Gelegenheiten zur Entwicklung von Bindung und Identifikation zu bieten.
Eines der Grundbedürfnisse des Menschen als soziales Wesen ist Bindung und Zugehörigkeit (Grundbedürfnisse nach Grawe). Wenn sich ein Mensch, einem Team oder einer Organisation zugehörig fühlt, wird von Identifikation gesprochen. Es gibt verständlicherweise nicht nur eine Form von Identifikation. Meistens lassen sich verschiedene Arten von Teil-Identifikation beobachten, die Mitarbeitende mit ihrem Arbeitsplatz oder Elementen davon erleben.
In unserer Arbeit mit Veränderungsprozessen, beschäftigen sich unsere Kunden oft mit der Frage, was es braucht, dass Mitarbeitende sich mit einer Veränderung identifizieren und insbesondere auch mit dem „Neuen“, das durch die Veränderung angestoßen wurde (wenn zum Beispiel ein Team anders strukturiert wird, dann ist das „Neue“ die Arbeit in der neuen Struktur). Denn nur wenn eine (Teil-)Identifizierung mit diesem Neuen besteht, ist es möglich, gute, potentialtragende Mitarbeitende auch langfristig im Unternehmen zu halten und somit einer hohen Fluktuation entgegenzuwirken. Um Mitarbeitende binden und halten zu können, ist es daher wesentlich, sich mit dem Thema Identifizierung und Nicht-Identifizierung auseinanderzusetzen.
Identifizierung als Ergebnis eines Identitätsbildungsprozesses
Was bedeutet also Identifizierung? Bei der Frage nach Identifizierung kann das Identitätsmodell von James E. Marcia interessante Perspektiven geben. Marcia‘s Modell ist eine Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung des psychosozialen Entwicklungskonzepts von Erik H. Erikson und ist nicht nur auf individueller Ebene anwendbar, sondern auch auf organisationaler.
Eine (gegenwärtige) Identifizierung ist immer Ergebnis eines dynamischen Identitätsbildungsprozesses: Wer bin ich (was sind meine eigenen Werte, Überzeugungen, Bedürfnisse, Perspektiven auf Arbeit, …) und wo finde ich eine Übereinstimmung (besser: Überschneidungsbereiche) meiner eigenen Identität mit der Identität meines Teams, meiner Organisation? Finde ich Übereinstimmung oder bin ich als Individuum sogar selbst Teil eines Identitätsbildungsprozesses (z.B. meines Teams), identifiziere ich mich?
In der Frage nach Identitätsbildung sind die folgenden zwei Dimensionen wesentlich: 1. Das Ausmaß an Exploration (Welche Alternativen gibt es zu dem, was wir in der Vergangenheit „schon immer so gemacht haben“) und das Ausmaß der inneren Verpflichtung gegenüber dem Neuen.
Erkundung (Exploration von Alternativen) | |||
Ja | Nein | ||
Innere Verpflichtung (Commitment) | ja | erarbeitete Identität | übernommene Identität |
nein | kritische Identität (sog. Moratorium) | diffuse Identität (Identitätsdiffusion) |
Innere Verpflichtung meint hier Commitment und bezieht sich somit vor allem auf eine kognitive Ebene der Zustimmung, im Gegensatz zu einer emotionalen: Ich kann auch zu etwas committet sein (mich selbst zu etwas verpflichten), dass ich nicht nur toll oder angenehm finde.
Es wird dann also unterschieden zwischen…
- der übernommenen Identität: Commitment ohne vorangegangene Exploration.
(BEISPIEL: Eine Mitarbeitende arbeitet seit einiger Zeit zufrieden in einem Team und hat sich in die bestehende unhinterfragte Teamstruktur eingefunden.) - der diffusen Identität (Identitätsdiffusion): Weder Exploration noch Commitment. Es dominieren Desinteresse und Beliebigkeit.
(BEISPIEL: Die Mitarbeitende ist unzufrieden mit ihrem Team, macht ihren Job nach Vorschrift. Sie setzt sich weder mit den Möglichkeiten auseinander, wie sie sich selbst verändern könnte oder wie das Team weiterentwickelt werden könnte.) - der kritischen Identität (sog. Moratorium): Es wird exploriert, ohne dass es zu einem Commitment kommt.
(BEISPIEL: Die Mitarbeiterin beschäftigt sich intensiv mit unterschiedlichen Möglichkeiten und Alternativen zur jetzigen Situation, bleibt aber passiv und trifft keine Entscheidung. Sie beschwert sich viel („es könnte alles viel besser sein“), ohne dass sie selbst aktiv wird.) - der erarbeiteten Identität: Intensive Explorationsphase und anschließendes Commitment.
(BEISPIEL: Die Mitarbeiterin wurde einbezogen in einen Prozess der Erkundung von Möglichkeiten für eine neue Teamstruktur. Nach ausführlicher Auseinandersetzung über mögliche Alternativen mit ihren Kollegen, bringen sie gemeinsam getragene Vorschläge für eine Veränderung ein.)
Mitarbeitenden-Identifizierung im Rahmen eines Organisationsentwicklungsprozesses
Unsere Aufgabe als Berater*innen in Organisationsentwicklungsprozessen ist es, zusammen mit dem Lenkungskreis (bzw. dem Projektteam, dem Auftraggeber, …) dafür zu sorgen, den Prozess so zu gestalten, dass das Risiko von Nicht-Identifikation der Mitarbeitenden mit dem Neuen möglichst gering ist. Dem Modell zufolge ist dafür das Eingebunden sein in Exploration von Möglichkeiten und dem Erkunden von Alternativen entscheidend. Nur wenn Exploration und dann anschließendes Commitment zusammenkommen, erreicht ein Individuum, erreicht eine Organisation eine stabile, reifere Form der übereinstimmenden, erarbeiteten Identität. Dies wiederum trägt, wie bereits dargestellt, entscheidend dazu bei, ob sich Mitarbeitende mit einer Organisation verbunden fühlen und wie es demnach der Organisation gelingt oder nicht gelingt, Mitarbeitende (insbesondere die Potentialträger und High-Performer) zu binden und zu halten.
In einem Organisationsentwicklungsprozess, den CONTRACT in einem Sozialamt begleitet, haben wir – wie in vielen anderen Organisationsentwicklungsprozessen auch – den Prozess so gestaltet, dass gemeinsame Identitätsbildung und damit einhergehende, sich entwickelnde Identifizierung mit dem Neuen stattfinden kann. Sie entsteht, wenn Mitarbeitende sich selbst im Explorieren erleben (und ernst genommen werden). Dabei ist es wichtig, im Voraus einen klaren Rahmen zu stecken, innerhalb dessen sich die Mitarbeitenden in ihrer Exploration bewegen können (sonst wird etwas entwickelt, das später nicht umgesetzt werden kann, was zur Wahrnehmung führt, dass der „Erfolg“ ausbleibt, was wiederum Frustration und Nicht-Identifizierung begünstigt).
Beispiele für Formate, die wir in diesem Organisationsentwicklungsprozess im Sozialamt eingesetzt haben, um Beteiligung an Exploration und anschließendes Commitment zu ermöglichen waren: das Einrichten einer Gruppe von „Jungen Wilden“ (organisationsjunge, progressive Mitarbeitende), die den expliziten Auftrag hatten, das Bisherige quer zu bürsten; eine Steuergruppe, zusammengesetzt aus Mitarbeitenden unterschiedlicher Hierarchieebenen und Rollen; abteilungsübergreifende, interdisziplinäre, altersdiverse Projekt-Arbeitsgruppen, die sich über eine begrenzte Zeit mit einem Thema (z. B. Ausgestaltung eines neuen Onboarding-Prozesses) auseinandergesetzt haben und unter anderem Interviews in verschiedenen Abteilungen geführt haben (Exploration von Möglichkeiten) und dann die Ergebnisse gebündelt und einen Vorschlag entwickelt haben, den sie anschließend der Steuerungsgruppe präsentiert haben.
Ein gewisses Risiko für Nicht-Identifikation in und nach Veränderungsprozessen ist selbstverständlich immer gegeben, aber gerade um der Mitarbeiterbindung Willen gilt es, Prozesse so zu gestalten, dass die Chance auf Identifikation möglichst hoch ist.