Rebellienz – Die Gleichzeitigkeit von Resilienz und Rebellion

Dies ist Teil einer Serie zum Thema Stressbewältigung und Umgang mit Paradoxien mit der Einführung eines neuen Begriffes. Im ersten Teil wird der Begriff erklärt.

Manchmal ist es einfach zu viel. Die ellenlange To-do Liste und die Anfragen von Kollegen. Die eigene mentale und körperliche Gesundheit und die Ziele des Unternehmens. Die Wünsche des Kunden, der Chefin und der Kolleg*innen. Dazu noch die eigenen Ansprüche. „Wie soll ich das Bewerkstelligen?“, ruft die innere Stimme. Manchmal, so scheint es, befinden wir uns inmitten eines Tauziehens mit den Heraus- und Anforderungen unseres Umfelds, gefangen in einer Zwickmühle, mit der Gewissheit, dass all das sich unmöglich vereinbaren lässt. Und wir sind mittendrin in diesem Spannungsfeld – im ganz normalen Wahnsinn des Arbeitsalltags.
Was braucht es nun, um in dieser Arbeitswelt zu überstehen und den mitunter diametralen Ansprüchen gerecht zu werden? Das ist die Königsfrage der heutigen Zeit. Denn Fakt ist: Wir alle werden weiterhin mit Dilemmata und Paradoxien konfrontiert werden – egal in welcher Funktion oder Hierarchieebene.

Eine Kombination aus Anpassen und Aufbäumen

In dieser Wirklichkeit bedarf es einer inneren Widerstandkraft, die widrigen Umständen begegnen kann. Die eigenen Ressourcen müssen aufgebaut werden, um äußere Einflüsse aushalten zu können und achtsam bei sich selbst zu bleiben. Und es braucht es eine mentale Robustheit, die wirksam mit schwierigen Situationen umgeht. Gleichzeitig bedarf es aber genauso einer energischen Wehrhaftigkeit, die den Status Quo entgegentritt und mit Kraft gegen die Stressquellen angeht. Es braucht die Fähigkeit Grenzen zu definieren, Ursachen aufzuzeigen und Veränderungen zur Verbesserung des Systems zu implementieren. Ein aktiver Veränderungswille, um sich gegen die misslichen Umstände aufzulehnen, damit andere, neue Lösungen gefunden werden können. Genau in diesem Zwischenraum – zwischen Anpassen und Aufbäumen – braucht es eine Kombination: Eine Balance zu finden zwischen dem Einsetzen der eigenen Widerstandkraft und dem Aufbegehren gegen unzuträgliche Strukturen.

Es braucht also einen Mix aus Anpassen und Aufbäumen, Aushalten und Auflehnen, Achtsamkeit und Abgrenzung. Um die Paradoxien und Spannungsfelder der heutigen Arbeitswelt zu meistern und eine vielfältige Reaktion auf die konkurrierenden Anforderungen des Alltags aufzuweisen, braucht es eine Gleichzeitigkeit aus beweglicher Resilienz und wehrhafter Rebellion. Es braucht Rebellienz.

Rebellienz als Bindeglied in Spannungsfeldern

Rebellienz setzt sich zusammen aus den Worten Resilienz und Rebellion. Es ist eine Wortneuschöpfung und beschreibt das Bindeglied dieser beider Eigenschaften. Es ist, per Definition, die Fähigkeit in paradoxen und ambiguen Spannungsfeldern zu wissen, ob man die eigene Widerstandskraft und Ressourcen nutzt oder dem momentanen Zustand entgegentritt und eine Veränderung des Ist-Zustands hervorruft. Rebellienz bedeutet somit ein Abwägen der eigenen Rollen, Werte und Ansprüche gepaart mit den Anforderungen der Umwelt, welches die Handlungsoptionen vergrößert und die Selbstwirksamkeit ausbaut – um letztendlich die eigene Gesundheit zu schützen und das System zu verbessern. Die Zielfrage lautet: Wie viel muss ich aushalten können und ab wann darf und sollte ich mich auflehnen? Oder anders formuliert: Bis wann ist meine eigene Resilienz gefragt und ab welchem Punkt braucht es Rebellion für strukturelle oder persönliche Veränderungen?

Ein Grundsatz der Rebellienz ist das Konzept des Spannungsfelds, ein Bereich mit gegensätzlichen Kräften, die aufeinander einwirken und sich gegenseitig beeinflussen und somit eine Spannung hervorrufen. Achtsamkeit und Auftragslage. Zeitdruck und Qualitätsanforderung. Dinge, die sich nicht (immer) miteinander vereinbaren lassen und um unsere Energie und Arbeitszeit konkurrieren. In diesem Tauziehen der Anforderungen gilt es abzuwägen, zu priorisieren, Entscheidungen zu treffen – und das immer mit der Verantwortung auf die individuellen und organisationalen Ziele.

Und genau dort liegt die Schwierigkeit: Die grundsätzliche Akzeptanz der Aufgabe, des Auftrags oder der Arbeit ist da – es gibt ein gemeinsames Ziel und Verständnis für die Anforderungen, die an jeden einzelnen gestellt werden. Krankenpfleger*innen arbeiten gerne mit und an ihren Patienten*innen. Führungskräfte geben gerne die Richtung vor. Sozialarbeiter*innen schätzen die Nähe zu ihren Klienten*innen. Das Spannungsfeld (und damit einhergehend das Potenzial für Rebellion) entsteht erst, sobald es nicht mehr zu schaffen ist, alles zu vereinbaren. Wenn aus einem Sowohl-Als-Auch ein Entweder-Oder gemacht wird, dann erzeugt das Unruhe und Überforderung. Und genau dort setzt Rebellienz als lösungsorientierte Kompetenz an.

Ein komplementärer Ansatz

Um sich in diesen Paradoxien und Dilemmata zu bewegen, braucht es sowohl eine resiliente Widerstandskraft als auch das Wissen, wie man Veränderungen anstößt und Grenzen kommuniziert. Was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint, ist in der Anwendung ein komplementärer Ansatz, der die Arbeitsrealität von Heute treffend widerspiegelt. Manchmal ist Selbstverantwortung und Aushalten gefordert, in anderen Fällen Widerstand und Aufbegehren. Sind diese beiden Fähigkeiten erstmal ausgeprägt, kommt der wahre Test: Das situative Anwenden. Wann ist es notwendig, eine Situation schlichtweg auszuhalten, auch, um daran zu wachsen? In welchen Situationen sollte ich mich aufbegehren, um mich selbst zu schützen? Und vor allem: Wie erkenne ich den Unterschied? Das ist der konstante Entscheidungsprozess von Rebellienz.

Mit den Anforderungen der heutigen Zeit zurechtzukommen und die eigene und organisationale Gesundheit zu erhalten ist ein vielschichtiger Ansatz gefordert. Mit dem Konzept der Rebellienz über diese Spannungsfelder nachzudenken, stellt einen Paradigmenwechsel dar, liefert es doch genau diese reziproken Fähigkeiten, die im Gesamtbild ein Mechanismus ergeben, der mit Paradoxien und Dilemmata umgehen kann, und somit sowohl Organisation als auch die Individuen auf eine gesunde und nachhaltige Art und Weise zu entwickeln.



Nico Menzel

Berater und Trainer.

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