Über meine falsche Klarheit zum Ukrainekrieg
Kein Konflikt der letzten Jahre geht mir so nahe wie der Krieg in der Ukraine. Die geographische Nähe, die persönliche Identifikation mit den Menschen (mein Opa stammt aus dem heutigen polnisch-ukrainischen Grenzgebiet), die plötzliche grausame Veränderung bei gleichzeitig möglicher friedlicher Entwicklung erzeugen in mir diese bedrückende Spannung – meine inneren Wahrnehmungsfilter sind besonders scharf gestellt. Ich erlebe, dass es vielen in meinem Umfeld auch so geht – gepaart mit der Sorge, was da auch noch auf uns persönlich zukommen wird.
Ich bin geschockt von dem Krieg, aber auch wie wir damit umgehen. Mich erstaunt, wie wenige pazifistische Lösungsoptionen gesellschaftlich und politisch diskutiert werden – Aus meiner Profession heraus würde ich fast so weit gehen, von einem blinden Fleck in der Debatte zu sprechen.
Als im Vorfeld des Krieges die deutsche Regierung sich weigerte Waffen zu liefern, war ich persönlich der gleichen Meinung. Dann überraschte mich, dass dieses bis dahin scheinbar undenkbare Szenario in diesem Ausmaß tatsächlich Wirklichkeit geworden ist. Dabei kam es in meiner Wahrnehmung zu einer Zuspitzung unserer gesellschaftlichen Deutung, von dem was als richtig gilt. Der plötzliche Krieg, erzeugte in der politischen und medialen Debatte scheinbar einen Moment absoluter Wahrheit, in dem u.a. die Lieferung von Waffen an die Ukraine das Richtige war – und ich stimmte dem zu. Als dann Forderungen laut wurden nach immer weiteren Waffenlieferungen, kam mir der Gedanke, dass ich möglicherweise einer falschen Absolutheit aufgesessen bin.
Bei all den Krisen der letzten Jahre wurde für mich unter anderem deutlich, dass keine Handlung alternativlos ist. Es doch immer noch andere Optionen gibt! Nur manchmal erzeugt die Art und Weise, wie wir eine Situation erleben, wie wir sie beschreiben und deuten den verdichteten Eindruck, dass scheinbar nur noch ein Ausweg infrage kommt. Teil meiner professionellen Arbeit ist dabei häufig genau das: Verstehen und Erarbeiten, dass nachhaltige Lösungen nicht durch Uni-, sondern durch Multiperspektivität im Denken und Handeln möglich werden.
Die falsche Seite in unserer gesellschaftlichen Debatte zum Ukraine-Krieg ist aus meiner Sicht schnell ausgemacht. Und so scheint uns nun das Richtige zu sein, eben gegen das Falsche zu sein: Alles, was das Falsche bekämpft, ist also das Richtige. Doch gerade die Krisen der letzten Jahre haben mir gezeigt, dass diese Dichotomie aus entweder oder, das Denken in nur zwei Optionen, die binäre Logik aus „0“ und „1“ häufig nicht mehr zielführend ist. Gerade während der Coronapandemie haben wir erfahren, dass es uns in einer widersprüchlichen Zeit nicht möglich ist, ein widerspruchsfreies Leben zu führen. So versuche ich auch die Debatte um das richtige Handeln in der Ukraine zu verstehen – auch wenn es schmerzhaft ist, da ich damit die scheinbare offensichtliche Wahrheit und Klarheit verlassen muss.
Im Kontext meines Berufes, beispielsweise bei einer Dilemmasituation eines Klienten im Coaching würde ich auf die Methode des Tetralemmas verweisen. Sie zeigt auf, dass wir nicht nur (1) „die eine Position“ oder (2) „die andere Position“ einnehmen können, sondern dass wir im Experiment (3) „beide Positionen“ denken und fühlen können; und genauso (4) „keine von beiden Positionen“ erdenken und erfühlen können. Bei dieser experimentellen Erweiterung des Dilemmas, werden die Betroffenen nicht selten durch (5) „eine weitere Perspektive“ überrascht, bei der dann eine neue innere Klarheit, aus einer anderen Ecke ihrer Persönlichkeit nach außen kommt.
Mit Blick auf die die Debatte um die Ukraine heißt das für mich, dass wir unsere Position genauso wie die Position Russlands hinterfragen und anders verstehen können, indem wir den schmerzhaften Weg gehen, uns auf weitere Optionen bewusst einzulassen.
Mein wichtigster Wert ist dabei das menschliche Überleben. Ich habe die Angst, dass, wenn wir den Konflikt in der Ukraine als einen absoluten Wertekonflikt zwischen dem demokratischen Westen und einem weitestgehend autokratischen Russland begreifen, dieser Konflikt endlos weitergehen wird. Wertekonflikte lassen sich nicht mit Stinger-Raketen oder Panzern klären; sondern indem wir übergeordnete Positionen finden.
Wenn wir uns in unseren Debatten auf eine übergeordnete Position einlassen, kann es uns leichter fallen, alternative Wirklichkeiten zu erdenken und zu erfühlen, in denen beide Wertewelten mit Blick auf die Ukraine zur Geltung kommen. Und genauso kommen Wirklichkeiten in Betracht, in denen keine von beiden Wertewelten sich durchsetzt, sondern ein anderes Modell möglich und wirklich werden könnte. Und sicherlich würde uns im Nachdenken über derartige Herangehensweisen andere Perspektiven sowie übergeordnete Werte, in den Sinn kommen, wie eine Weiterentwicklung möglich wäre.
Dass wir dann allerdings von unseren absoluten (und scheinbar klaren) Positionen abrücken müssten, wäre offenkundig nötig. Aber indem wir andere Positionen zulassen, ermöglichen wir, dass andere Wirklichkeiten plausibel werden können.
Ich weiß, dass dieser Blogartikel, die Debatte in Medien und Politik nicht ändern wird. Aber ich würde gerne uns alle ermutigen in unserem direkten Umfeld andere Wahrheiten und damit andere Wirklichkeiten zuzulassen, sie zu denken und sie auszusprechen und zuzuhören.
Ich bin erschrocken über die Absage von Musikveranstaltungen, Kunstausstellungen und weiteren Kunstveranstaltungen mit Bezug zur russischen Kultur sowie Einschränkung der Zusammenarbeit und der Kontakte mit Russen. Ich erlebe ein eingeschränktes Bild von Russland, Russen und Menschen mit russischer Migrationsgeschichte – und ich habe Angst, dass wir dabei riskieren, dass ein Feindbild wiederaufersteht und sich verhärtet.
Ich wünsche mir demgegenüber eine neue Offenheit und einen neuen Dialog. Ich möchte versuchen, diese tragische Situation einmal mehr als Weckruf zu nehmen, die vielen menschlichen Seiten meines Gegenübers zu schätzen, gerade jetzt den Kontakt und die Kommunikation miteinander zu intensivieren und noch besser zuzuhören.
Im Gespräch können wir im Kleinen wie im Großen Konflikte bearbeiten.
Auch wenn Debatten eine Eigendynamik mit scheinbar absoluten Wahrheiten produzieren, können wir als Menschen versuchen, uns davon zu distanzieren und durch unser Sprechen und Handeln im Kleinen Unterschiede zu erzeugen, die auch im Großen einen Unterschied machen könnten.